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Gegen das Vergessen

Ein Text von Vivian Münzel

„Was ist dein wichtigster Wert, für den du alles verteidigen würdest?" Hedwig Thelen von der „Euthanasie"-Gedenkstätte in Lüneburg fragt die gut zwanzig Schülerinnen und Schüler aus der 9b gleich zu Beginn, auf welche Werte sie niemals verzichten könnten. „Glaube", „Freiheit", „Familie", das sind nur einige ihrer Antworten. Doch was muss passieren, um die wichtigsten Werte über Bord zu schmeißen? Wie kann es sein, dass an diesem Ort vor rund 80 Jahren Ärzte mordeten, obwohl sie doch Medizin studiert hatten, um Leben zu retten? Diese und andere Fragen beschäftigen die Gruppe während ihres Workshops in der Gedenkstätte.

Ärzte und Pflegekräfte waren verantwortlich für das systematische Morden in der sogenannten „Kinderfachabteilung" der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Ab 1941 sind dort mindestens 425 Kinder mit Beeinträchtigungen durch die Nationalsozialisten umgekommen. Ihnen wurde Nahrung entzogen, sie wurden unzureichend in viel zu kalten Räumen versorgt, nur dünn bekleidet. Auf Anordnung der Ärzte verabreichten die Pflegefachkräfte den geschwächten Körpern schließlich Luminal, ein Medikament gegen Epilepsie mit tödlichen Folgen für die Kinder. „Frau Münzel, ich kann einfach nicht verstehen, warum die das gemacht haben", merkt Can kopfschüttelnd an. Ob das jemals hinreichend erklärt werden kann? Welche Antworten soll man den Schülerinnen und Schülern geben? „Wir alle können nicht sicher sein, ob wir damals nicht auch mitgemacht hätten", so Thelen. „Das Morden geschah aus der Überzeugung heraus, dem sogenannten „Volkskörper" etwas Gutes zu tun." Denn in der Weltanschauung der Nazis seien kranke und behinderte Menschen „Ballastexistenzen" gewesen, die dem Reich unnötig auf der Tasche lagen. Propaganda, Hass und Hetze manipulierten Menschen, die dann zu Tätern wurden.

„Aber haben die Eltern denn nicht gewusst, was ihren Kindern angetan wurde?", will Lia wissen. „Nein, viele Eltern wussten nicht, was hier geschah. Sie gaben unversehrte Kinder in die Heil- und Pflegeanstalt und bekamen später die Todesmeldungen. Oft wurde als Ursache für den Tod ihrer Kinder Lungenentzündung angegeben." Die Schülerinnen und Schüler sitzen auf dem Rasen vor einem der Häuser auf dem heutigen Gelände der Psychiatrischen Klinik in Lüneburg. Die Sonne scheint, es ist warm, der Himmel ist blau. „Dies ist eines der Häuser, in dem die Kinder ermordet wurden", sagt Thelen und zeigt auf eines der hübschen Gebäude, roter Backstein, freundlicher hellgelber Putz, in dem auch heute noch Patienten untergebracht sind. Die Jugendlichen sind sehr aufmerksam, sie stellen Fragen und hören konzentriert den Ausführungen von Frau Thelen zu. An das Grauen von damals erinnert heute nichts mehr. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass die „Euthanasie"-Gedenkstätte Forschungs- und Bildungsarbeit leistet. Noch immer sind nicht alle der Opfer von damals identifiziert.

Auch Erwachsene wurden in Lüneburg Opfer der Nazis, durch Zwangssterilisation oder Mord. Sie galten als erbkrank und sollten ihre Gene nicht weitergeben können. Das sogenannte „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wurde bereits im Juli 1933 unter Adolf Hitler verabschiedet. Erst im Jahr 2007 wurden Zwangssterilisierte und „Euthanasie"-Geschädigte gesellschaftlich rehabilitiert, indem der Deutsche Bundestag das Gesetz der Nazis ächtete.

Nach der Führung über das Gelände geht es für die Schülerinnen und Schüler in das sogenannte „Gärtnerhaus", in dem die Bildungsstätte untergebracht ist. Hier arbeiten sie nun an einzelnen Biografien weiter, versuchen nachzuvollziehen, wie Menschen in die Heil- und Pflegeanstalt kamen, um dann entweder ermordet oder zwangssterilisiert zu werden. In Gruppen erforschen sie anschließend auch im Geschichtsunterricht das Leben und Leiden der Opfer und reflektieren ihre Gedanken zu den Verbrechen in eigenen Texten. Eine Schüler*innen-Gruppe setzt sich intensiver mit einem der Täter auseinander, dem Arzt Max Bräuner, der im Dritten Reich auch Direktor der Heil- und Pflegeanstalt war. Die Texte der Lernenden werden in den kommenden Wochen nach und nach auf dem blogambuchwedel zu lesen sein. Denn alle sollen teilhaben an den Gedanken der Schülerinnen und Schüler. Die Klasse 9b ist sich einig: Das Unrecht der Nazizeit darf niemals vergessen werden.

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